Selbst geschrieben!

Verlassen

Ich keuche. Dabei ist sie leichter geworden. Zu leicht. Ich muss mich beeilen. Ich habe keine Kraft mehr, aber mein Wille trägt mich. Mein Magen knurrt. Noch ein Schritt. Und noch einer. Nur noch bis da. Und bis dort. Bis zur Stadt. Ich gehe schneller. Wir sind bereits seit Tagen unterwegs. Dort wird man uns helfen; die Leute sind reich. Ich stöhne. Wie weit noch? Ich muss meine Schwester tragen, eine Behinderung. Aber eine, die es wert ist. Es dämmert. Funkelt da etwas am Horizont? Ich bin mir nicht sicher. Aber gegen Mittag hebt sie sich deutlich aus dem Sand. Ich beschleunige. Bald bin ich nahe des Stadtrands. Meine Schwester regt sich. Ich stelle sie auf die Füße.Sie öffnet die Augen. Sie glänzen fiebrig. Sie sieht sich um. Schaut mich an. Lächelt. Traurig. Schließt die Augen und sinkt kraftlos zu Boden. Ich bin sofort bei ihr. Sie wird von Krämpfen geschüttelt und hustet Schleim, Blut. Es ist mir egal. Ich halte sie. Die Leute gehen weiter. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich schreie sie an; sie sollen etwas tun. Mir helfen, meine Schwester zu retten. Ich wende mich ihr wieder zu. Ihre Augen sind geschlossen, sie hat sich beruhigt. Ich nehme sie wieder auf den Rücken. Ihre knochigen Rippen bohren sich in meine Wirbelsäule. Ein Arzt, ich muss einen Arzt finden! Ich laufe los. Doch wo in diesem Gewirr von Gassen ist einer? Einige Leute kennen den Weg; ich renne so schnell ich kann. Da, die Praxis. ‚Was kann ich für dich tun?‘ ‚Meine Schwester, krank‘ stammele ich. Sie sieht sie an. Dann mich. Ich erkenne es dinieren Augen. Die Wahrheit. ‚Nein‘ ich merke nicht, dass ich schreie. Von allen Sinnen stürze ich mich zurück in die Gassen. Es ist dunkel geworden. Ich bin völlig erschöpft. Bei der nächsten Brücke zögere ich nicht und lege mich an meine kalte Schwester geschmiegt hin. Kurz noch, verschwimmt die Welt vor meinen Augen, bevor ich in den Schlaf gleite. Ich halte sie im Arm.

Eine sanfte Stimme weckt mich. Ich schrecke hoch. Meine Schwester, wo ist sie? Die schwarz-weiße Frau sieht mich traurig an. Jemand brüllt. Es klingt wie ein verwundetes Tier. Ich halte mir die Ohren zu und schlage um mich. Hände halten mich fest. Eine hält mir den Mund zu. Der Schreiende bricht ab. Willenlos lasse ich mich in ein Auto verfrachten. Ich spüre mich nicht mehr. mein Körper ist taub. Wie meine Ohren. Immer wieder sehe ich ihr Bild vor meinen Augen, bevor die Welt wieder im Dunkel versinkt. Ich erwache auf einer weichen Matratze. Stundenlang liege ich da und starre an die Decke. Ich esse nichts. Ich rede nicht. Die Tage verschwimmen zu einem undurchdringlichen grau, das nur von meinen häufigen Albträumen durchbrochen wird. Meine Mutter, die mich anbettelt, wegzugehen. Mein Vater, wie er sie zusammenschlägt. Meine Schwester, tot. Ich habe keinen Wert mehr. Alle habe ich im Stich gelassen. Nur die Schläuche erhalten mich am Leben. Doch da ist sie wieder. Ihr Blick ist ernst. Ich beginne zu essen. Alles zu machen, was die Leute mir sagen. Das will die Frau. Doch mein Selbst ist eine leer, haltlose Hülle. Ich mache kleine Ausflüge. Korridore, Türen, das ist alles, was ich finden kann. Eingesperrt. So fühle ich mich. Ich werde sauer. Trotzig. Wütend. Angstvoll. Nachts stehe ich auf und suche. Und suche. Und suche. Ich weiß nicht wonach. Alle Türen sind verschlossen. Diese nicht. Ich öffne sie. Eine Halle. Bänke, ein Kreuz. Ich rolle mich auf einem Polster zusammen. Gleite in einen leichten Schlaf. Hier finde ich Ruhe. Dann kommt sie. Lächelt. Zwinkert mich an. Überträgt mir die Mission.

Ich erwache, denn ich lebe

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